Ethnologie
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Politik des Wiederaufbaus

Das Erdbeben in Pakistan und Azad Kashmir (Oktober 2005)

Am 8. Oktober 2005 wurden der Nordosten Pakistans und das angrenzende Azad Kaschmir von einem Erdbeben der Stärke 7,6 erschüttert. Über 73.000 Menschen starben, ca. 3,3 Millionen wurden obdachlos, die Infrastruktur des Gebiets wurde massiv geschädigt.

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Das Projekt erforscht die politischen und gesellschaftlichen Folgen des Erdbebens auf lokaler Ebene. „Natur“-Katastrophen, so die Ansätze der political ecology und der aktuellen ethnologischen Katastrophenforschung, sind nicht lediglich natürliche, geo-physikalische Ereignisse, sondern komplexe Geschehnisse an der Schnittstelle wechselseitiger Interaktionen von Mensch, Umwelt und Gesellschaft. So hat ein Erdbeben nicht nur unmittelbare Folgen im Sinne der ausgelösten Zerstörungen, sondern darüber hinaus zunächst kaum überschaubare mittelbare und längerfristige Konsequenzen. Sie ergeben sich einerseits aus einer neuen Einbindung des Katastrophengebiets in den regionalen, nationalen und internationalen Kontext etwa durch Maßnahmen der Regierung, internationale Hilfsprogramme und die Aktivitäten nationaler NGOs, andererseits aber auch durch soziale Veränderungen, die in der lokalen Gesellschaft selbst stattfinden, ausgelöst etwa durch Todesfälle in der Familie, die Zerstörung von Besitz und Erwerbsmöglichkeiten. Diese Folgen werden durch Maßnahmen des Wiederaufbaus keineswegs beseitigt, sondern Wiederaufbau ist selbst ein Prozess, der massiv und dauerhaft in lokale Verhältnisse eingreift. Er impliziert das Zusammentreffen verschiedener externer, staatlicher und nicht-staatlicher, Akteure mit lokalen Akteuren (politischen Gruppierungen, Verwandtschaftsgruppen, Nachbarschaften, Haushalten und Individuen), die, ihre jeweils eigenen Interessen vertretend, durchaus unterschiedliche Ziele des Wiederaufbaus verfolgen. Diese Interaktionen mit externen Akteuren können für lokale Akteure konfliktreich und problematisch sein, oder aber neue Opportunitäten schaffen, die herrschenden lokalen Machtverhältnisse zu ihren Gunsten (und zu Ungunsten anderer Akteure) zu verändern.   

Ziel des Forschungsprojekts ist, empirische Erkenntnisse über diese politischen Prozesse zu gewinnen, die mit dem Wiederaufbau auf lokaler und regionaler Ebene verknüpft sind. In urbanen und ruralen Kontexten in Azad Kaschmir (Muzaffarabad) und Pakistan (Balakot) werden verschiedene Teilforschungen mit grundsätzlich zwei inhaltlichen Schwerpunkten durchgeführt.

Der erste Schwerpunkt behandelt lokale Wiederaufbaustrategien zerstörter Wohnhäuser im Kontext der durch das Erdbeben veränderten sozialen, ökonomischen und politischen Situation von Haushalten und ihren Mitgliedern. Diese Strategien sind entscheidend durch den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen (soziale Netzwerke, finanzielle Mittel, technisches Wissen usw.) bestimmt und hängen somit auch mit der Einbindung lokaler Akteure in staatliche und nicht-staatliche Housing-Programme zusammen. Lokale Akteure werden ungleich von diesen Programmen berücksichtigt, etwa weil sie gewissen Kriterien nicht genügen, über keine Vernetzung mit der Verwaltung verfügen oder sich mit der komplizierten Administration kaum zu Recht finden. Die von Pakistan zentralistisch organisierte Wiederaufbaupolitik kann daher in lokalen Kontexten auf Ablehnung und Kritik stoßen. Inwiefern diese kritischen Haltungen lokaler Akteure in politische Engagements übersetzt werden, ist ebenfalls Gegenstand der Forschung.

Der zweite Schwerpunkt behandelt die sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Erdbebens und der staatlichen Wiederaufbaupolitik auf lokale Unternehmer. Im Fokus der Betrachtung stehen dabei einerseits die durch die veränderten sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen neu entstandenen ökonomischen Erwerbsmöglichkeiten, als auch die daraus entwickelten Erwerbsstrategien des Unternehmers und deren Bedeutung für das soziale Netzwerk des Unternehmers, sowie für den Unternehmer selbst. Andererseits werden die unterschiedlichen Perspektiven der lokalen Unternehmer auf die staatlichen Wiederaufbaumaßnahmen durchleuchtet. Untersucht werden sowohl die Wünsche und Forderungen der einzelnen Unternehmer an den Staat, als auch die Formen politischen und zivilen Widerstandes gegen staatlich gelenkte Wiederaufbaumaßnahmen. Da diese staatlichen Wiederaufbaumaßnahmen,  bzw. die Planung von neuen städtebaulichen Maßnahmen im Zuge des Wiederaufbaus oft mit der staatlichen Enteignung von Privatland einhergeht, sollen auch landrechtliche Fragen, die in Azad Kaschmir, insbesondere in der Hauptstadt Muzaffarabad, aufgrund der Landknappheit ein besonderes Konfliktpotential bergen, aufgegriffen werden.

Muzaffarabad

Die Forschungen zu Wiederaufbaustrategien zerstörter Wohnhäusern und lokalen Erwerbsstrategien konzentrieren sich auf zwei Gebiete, die sich sozial und politisch etwa im Hinblick auf ihr Verhältnis zum pakistanischen Staat unterscheiden: Balakot in Pakistan und Muzaffarabad in Azad Kaschmir. Die Erkenntnisse aus Balakot, wo eine pakistanische Ethnologin und ein pakistanischer Ethnologe arbeiten, bieten für die Erkenntnisse aus Muzaffarabad wichtige Vergleichsmöglichkeiten. Dadurch können lokale Besonderheiten und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, was eine vertiefte und differenzierte Perspektive auf politische und gesellschaftliche Auswirkungen der Erdbeben-Katastrophe ermöglicht.    

Projektteam: Prof. Dr. Martin Sökefeld (Leitung), Pascale Schild, MA, Stefan Urban, MA. Beginn: Juli 2009.

Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Azam Chaudhary, Quaid-I-Azam University, Islamabad, durchgeführt.

Gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds (bis Juli 2010, 100017-121778) und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft  (Juli 2010 - September 2012, SO 435/3-1).

Publikation:

Verantwortlich für den Inhalt: Martin Sökefeld


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