„Der Andere soll sich ändern, aber nicht zu sehr.“ Multikulturalismuskonzepte im Liberalismus aus ethnologischer Sicht
Oberseminar Institut für Ethnologie, LMU, SS 2009 11.05.2009, 18-20h, Raum 0.05
10.05.2009
In der Debatte, ob und inwiefern die rechtliche Anerkennung kultureller Differenz mit der liberalen Werteordnung überhaupt vereinbar sei, wird immer wieder auf Charles Taylor Bezug genommen. In seinem Aufsatz „Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung“ ist sich Taylor mit dem klassischen Liberalismus („Liberalismus 1“) darin einig, dass die unverwechselbare Identität jedes Individuums unabhängig von Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit geachtet werden müsse. Da diese Identität aber nur in kollektiven Lebenszusammenhängen ausgebildet werden könne, müssten im Gegenzug diese kulturellen Lebensformen geschützt werden, wobei unter bestimmten Bedingungen grundrechtseinschränkende Statusgarantien erlaubt seien (Liberalismus 2).
Habermas ist ebenfalls der Auffassung, dass Gruppen, die systematisch benachteiligt werden, Gruppenrechte benötigen, weist aber auf das Dilemma hin, dass zu diesem Zwecke die betreffenden Gruppen juristisch essentialisiert werden müssen, was zu normalisierenden Eingriffen der Art führen kann, dass die Nutznießer dieser Politik in ihrem Spielraum für eine autonome Lebensgestaltung eingeschränkt werden. Kollektive Rechte für Indigene beispielsweise gehen immer mit einer Essentialisierung derselben einher; die Aborigines in Australien werden auf eine „authentische Kultur“ festgeschrieben, welche die Grundlage für ihre Sonderrechte bildet. Der Andere soll sich zwar ändern, aber nicht zu sehr.
Gibt es aus diesem Dilemma einen Ausweg? Und wie sollen wir uns als Ethnologen hier verhalten? Auf der einen Seite dekonstruieren wir imaginäre Homogenitätskonzepte, auf der anderen Seite sind wir mit der politisch-rechtlichen Tatsache konfrontiert, dass aufgrund der Architektonik des liberalen Rechtsstaats Gruppen nur Sonderrechte gewährt werden können, nachdem sie essentialisiert worden sind.
Widersprüchlich ist auch das Konzept von Kultur, das liberalen Multikulturalismusmodellen zugrunde liegt. Kultur wird auf der einen Seite eine überdeterminierende Rolle zugewiesen; auf der anderen Seite soll jeder das Recht haben, aus „seiner“ Kultur auszusteigen, womit Kultur liberalistisch als „take it or leave it“ trivialisiert wird, doch, wie die Ethnologin Cowan sagt, „Opting out is often not an option.“
Eine Ethnologie des Multikulturalismus, d. h. eine kritische Untersuchung der ihm zugrunde liegenden Prämmissen, muss diesen an hegemoniale Machtdiskurse zurückbinden. Und dann wäre nämlich zu fragen, ob eine Verrechtlichung der Alterität dieser nicht die Zähne zieht, sie einhegt und politisch neutralisiert ...
Alexander Kellner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethnologie in Heidelberg