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Santo Domingo - politische Verflechtungen

Politische Verflechtungen in der colonia „El Pedregal de Santo Domingo“ in Mexiko-Stadt

Verena Backes und Merlin Austen

Die mexikanische Verfassung, die aus der Revolution von 1917 hervorgegangen ist, seither jedoch häufig modifiziert wurde, definiert Mexiko in Artikel 40 als eine repräsentative, demokratische und föderale Republik. Der Präsident wird direkt auf sechs Jahre gewählt und hat umfassende Kompetenzen, wie etwa selbst Gesetzesentwürfe einzubringen oder das Parlament aufzulösen. Das politische System Mexikos war lange Zeit durch die Vormachtstellung der PRI (Partido Revolucionario Institucional) gekennzeichnet. Diese Partei herrschte jahrzehntelang mehr oder weniger uneingeschränkt und etablierte sich mit einem korporativen Charakter als nationale politische Kraft. Mit eigenen Gewerkschaften, Verbänden und Institutionen, wie etwa der CNC (Confederación Nacional de Campesinos), konnte sich die PRI tief in der mexikanischen Gesellschaft verankern. Dennoch erlitt sie seit den 1980er Jahren eine Legitimitätskrise, die u.a. durch die Wirtschaftskrise von 1982 und den Beitritt zur NAFTA, einhergehend mit dem Aufstand der Zapatisten in Chiapas 1994, ausgelöst wurde. Dadurch konnten seit den 1990er Jahren andere Parteien, namentlich die PAN (Partido Acción Nacional), auf bundesstaatlicher Ebene erste Erfolge erzielen. Als Folge änderte sich das politische Klima und auch die Art und Weise, Stimmen zu mobilisieren und Wahlkampf zu führen (Stüwe 2008: 388-414).

Die Folgen des Umschwungs hin zu einer aktiven Mehrparteiendemokratie und die damit einhergehende politische Praxis der Stimmenmobilisierung können auf der Mikroebene Santo Domingos exemplarisch für Mexiko-Stadt beobachtet werden. Die lokalen Akteure und Akteurinnen befinden sich häufig an wichtigen Schnittpunkten zwischen staatlicher Politik und zivilgesellschaftlichem Engagement. In mehreren Interviews versuchten wir den Strukturen, Netzwerken und Praktiken des lokalen Umgangs mit staatlicher Politik auf die Spur zu kommen.

Unsere Gesprächspartnerin arbeitet seit drei Jahren als sogenannte líder de sección, eine Art Wahlfrau, die Stimmen für den örtlichen Kandidaten einer politischen Partei einzutreiben hat. Sie erklärte uns, dass die Abgeordneten für jede Sektion ihres Wahlbezirkes sogenannte líderes de sección bestellen. Mit diesen begründen sie eine Art Arbeitsverhältnis. Die lideres werden dafür bezahlt, Wählerstimmen zu mobilisieren. Die Delegación Coyoacan umfasst ca. 200 Sektionen, über die die Kandidaten versuchen, die lokale Bevölkerung zu erreichen. Die líderes erhalten von den Politikern materielle Ressourcen, wie etwa Decken, Lebensmittel oder Kinderspielzeug, die sie an potenzielle Wählerinnen und Wähler verteilen können. Die Empfänger dieser Gaben verpflichten sich im Gegenzug, auf politische Veranstaltungen und Kundgebungen zu gehen, oder den Kandidaten direkt mit ihrer Stimme zu unterstützen. Teilweise sind auch staatliche Verteilungsstellen in dieses System mit einbezogen.

Nach Aussagen unserer Gastfamilie beruhen die Beziehungen zwischen líderes und ihren Klienten oftmals auf ambivalenter Gegenseitigkeit. Die líderes brauchen die Unterstützung der lokalen Bevölkerung, um sich gegenüber ihren Arbeitgebern zu rechtfertigen. Die lokale Bevölkerung wiederum profitiert auf diese Weise von staatlichen Entwicklungsprogrammen. Innerhalb dieses Akteursdreiecks kann sich jedoch niemand der Loyalität des jeweils anderen vollkommen sicher sein, da dieselben Strategien nicht nur von einer, sondern von allen Parteien eingesetzt werden. Gleichzeitig offenbart dieses System eine Vielzahl heterogener, selbstreflexiver Akteursgruppen, die mit ihrer Handlungsmacht „von unten“ die sozio-politische Organisation und Repräsentation des Stadtviertels Santo Domingo maßgeblich mitprägen. Politische Diskurse sind allgegenwärtig, sei es in den comedores, den verschiedenen Workshops der Escuelita oder in den Projekten für behinderte Kinder des Viertels und werden dort produziert und rezipiert.

Ein weiterer Aspekt, der mit der kritischen Reflexion politischer Aktivitäten einhergeht, ist die „Korruption“, die je nach Kontext unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird. Das Spektrum reicht über unhinterfragte politische Alltagspraktiken, akzeptierte Arten der asymmetrisch-reziproken Verteilungslogik bis hin zu öffentlicher Anprangerung. Was als „Korruption“ verstanden und benannt wird, hängt von den sozialen Beziehungen und politischen Zusammenhängen ab. So existiert beispielsweise ein beträchtliches kritisches Potenzial gegenüber dem eigenen Arbeitgeber, insbesondere dann, wenn Versprechen nicht eingelöst werden, wie etwa die Bereitstellung von infrastrukturellen Dienstleistungen, sei es Müllabfuhr oder Wasserversorgung. Ebenso werfen sich die líderes gegenseitig Korruption vor. Der Vorwurf der „Korruption“ scheint immer dann aufzukommen, wenn bestimmte akzeptierte Grenzen der persönlichen Bereicherung überschritten werden und es zu einer hohen Konzentration materieller Güter in den Händen weniger kommt.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die líderes de sección an der Schnittstelle zwischen der wählenden Bevölkerung, den Institutionen der staatlichen Entwicklungsprogramme und den Abgeordneten der delegaciones von Mexiko-Stadt situiert sind. Sie nehmen eine Schlüsselposition in der Vermittlung zwischen Zivilgesellschaft und staatlicher Politik ein und sind meist in beiden Sphären sehr gut vernetzt. Diesen Prozess der politischen Durchdringung ehemals peripherer Stadtviertel seit der Abwahl der PRI im Jahr 2000 kann mit Canclini als ein positives Phänomen der städtischen Globalisierung verstanden werden, das auf eine zunehmende Demokratisierung und politische Partizipation der Bevölkerung verweist (Canclini 2008: 90). Andererseits ist auch eine zunehmende Korruption und eine damit zusammenhängende Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit der Bevölkerung zu beobachten. Diese führen jedoch auch zu verstärktem zivilgesellschaftlichem Engagement. Solche Tendenzen kommen in Santo Domingo etwa in verschiedenen Workshops, Organisationen und Nachbarschaftshilfeprojekten, wie gemeinsamen Müllsammelns oder einer wöchentlichen Milchausgabe, zum Tragen.

Literatur:

Canclini, Nestor Garcia (2008). Mexico City 2010, Improvising Globalization. In: Huyssen, Andreas (Hg.): Other Cities Other Worlds. Urban Imaginaries in a Globalizing Age. London: Duke University Press, S. 79-98.

Davies, Diane E. (2007). Conflict, Cooperation, Convergence: Globalization and the Politics of Downtown Development in Mexico City. Politics and Globalization. Research in Political Sociology 15:139-174.

Gutmann, Matthew C. (2009). The Invasion of Santo Domingo. In: Beltrán, Sergio; Esteva, Gustavo et. al. (Hrsg.): Rethinking Globalization. International Honors Program.

Stüwe, Klaus; Rinke, Stefan (Hrsg.) (2008). Die politischen Systeme in Nord-und Lateinamerika. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.


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