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Santo Domingo - imaginierte Geschichte

Manifestation imaginierter Geschichte in der colonia „El Pedregal de Santo Domingo“ in Mexiko-Stadt

Katharina von Sohlern und Anne-Kristin Sus

Der besondere Entstehungskontext Santo Domingos spielt bis heute eine wichtige Rolle im kollektiven Gedächtnis der Bewohnerinnen und Bewohner sowie in der Repräsentation des Viertels. Die Geschichte Santo Domingos wird auf spezifische Weise imaginiert und verweist auf ein geteiltes Schicksal. Diese gemeinsame Erinnerung manifestiert sich räumlich in Form von Symbolen und Codes, die durch die Erinnerungsgemeinschaft auf eine bestimmte Art und Weise gedeutet werden. Sie dienen zur Abgrenzung gegenüber anderen Stadtvierteln und tragen zur Bildung einer Gruppenidentität bei. Darüber hinaus wird die Gegenwart mit Blick auf die Vergangenheit sinnhaft gedeutet. Die zentrale Bedeutung von Geschichte zeigt sich auf in ihrer Darstellung in Texten, die strategisch eingesetzt werden. Diese Dimensionen sind nicht unabhängig voneinander zu betrachten, sondern beeinflussen und bedingen sich gegenseitig. So steht die textliche Rekonstruktion der Geschichte in engem Zusammenhang mit der kollektiven Imagination durch die Erinnerungsgemeinschaft – und diese wiederum mit der Vertextlichung der Vergangenheit, die sich als kulturelles Konstrukt erweist.

Einer der ersten Orte, die wir in Santo Domingo kennenlernten, war die Escuelita „Emiliano Zapata“, ein Gemeindezentrum, das ursprünglich als Schule gegründet wurde. Heute bietet es neben Sprach- und Sportkursen, einer Cafeteria, einem Buchladen, einer Bibliothek und vielem mehr Erwachsenen die Möglichkeit, grundlegende Schulbildung nachzuholen. Bereits beim Eintreten wird der Blick von einem riesigen Wandbild gefangen, das der mexikanische Künstler Daniel Manrique (1939-2010) für die Escuelita gemalt hat. Daneben steht ein Zitat, das auf die Entstehungsgeschichte des Viertels verweist:

„Cuando los jodidos del mundo aprendamos a convivir y aprendemos a compartir entre nosotros el producto de nuestro trabajo entonces viviremos bien y seremos libres.“

(Wenn wir, die Benachteiligten der Welt, lernen zusammenzuleben und das Produkt unserer Arbeit zu teilen, werden wir gut leben und frei sein).

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Wandbild des Künstlers Daniel Manrique in der Escuelita Emiliano Zapata. Foto: Verena Backes

Als zweitgrößte colonia popular in Mexiko-Stadt wurde El Pedregal de Santo Domingo im Jahr 1971 gegründet. 20.000 Menschen strömten damals innerhalb kurzer Zeit in die felsige Landschaft im Süden der Stadt und besetzten auf der Suche nach einer besseren Zukunft rund zwei Millionen Quadratmeter Land (Gutmann 1996: 33).

Diese Geschichte ist auch in zwei von der Escuelita veröffentlichten Büchern nachlesen, die dort in mehrfacher Ausführung vorhanden sind. Sie enthalten Abbildungen von Blechhütten in einer felsigen Landschaft, dem Pedregal, meist stehen Frauen mit ihren Kindern auf den steinigen Wegen vor ihren Hütten. Stolz erzählt uns die Bibliothekarin von der engen Verwobenheit der Geschichte der Escuelita mit der Geschichte des Viertels. Besondere Bedeutung misst sie der Rolle des Gemeindezentrums im Kampf um finanzielle Unterstützung durch die mexikanische Regierung bei. Kanadische Journalisten wurden auf die prekäre Lage in Santo Domingo aufmerksam, wodurch der Druck auf staatliche Behörden erhöht werden konnte. Schließlich konnte 1991 ein Abkommen mit der Unión de Colonos del Pedregal de Santo Domingo (die Vereinigung der Siedler des Pedregals de Santo Domingo) und der Stadtverwaltung zur Unterstützung des Viertels unterzeichnet werden.

Auf die Frage nach dem wichtigsten Gebäude im Viertel wurde von unseren Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen die Escuelita als eines der ersten genannt. Sie besitzt eine identitätsstiftende Rolle, da sie kollektives, idiosynkratrisches Wissen über die Geschichte repräsentiert. Dieses kollektive Wissen, das sich in verschiedenen Medien und Räumen manifestieren kann, bezeichnet Assman als kulturelles Gedächtnis (Assman 1988: 15). Die Manifestation und Verdichtung dieses kulturellen Gedächtnisses in einem bestimmten Raum schlägt sich für Assman an einem Gedächtnisort nieder. Dieser verweist gleichzeitig auf die Vergangenheit und die Gegenwart, indem er Erinnerungen und Assoziationen auslöst. Assman versteht die Vergangenheit als soziales und kulturelles Konstrukt, das sich auf die Gegenwart bezieht, da es von spezifischen Motiven, Erwartungen und Hoffnungen geformt wird. Durch kollektive Erinnerungen an eine gemeinsame, als einzigartig erlebte Vergangenheit entsteht eine Gruppenidentität, welche die Einigkeit nach Innen und die Differenz nach Außen betont. Diese soziale Gruppe der Erinnernden bezeichnet Assman als Erinnerungsgemeinschaft (Dürr 2005: 7f).

Während öffentliche Orte, wie das Gemeindezentrum, für das Kollektiv eine besondere Bedeutung mit Blick auf die gemeinsame Geschichte besitzen, ist auf individueller Ebene beispielsweise der eigene Wohnraum für das Weiterleben der persönlichen Familiengeschichte maßgebend. Eine der fundadoras, der Gründerinnen des Viertels, erzählte uns von der Geburtsstunde Santo Domings. Sie beschrieb eine Zeit, die geprägt war von Entbehrungen, persönlichen Schicksalsschlägen und großen gesundheitlichen Problemen, unter denen die Bewohnerinnen und Bewohner aufgrund der mangelnden Hygiene und schlechten Wohnsituation zu leiden hatten. Dennoch erinnerte sie sich auch an eine Zeit voller Hoffnung und Stolz auf das, was sie gemeinsam erreicht haben:

„Empezamos desde nada y eso nos hace muy unidos.“

(Wir haben bei Null angefangen und das vereint uns).

Für die ehemalige Invasorin wird ihr Haus zur verräumlichten Erinnerung, wenn sie erzählt, wie sie – ebenso wie ihre Nachbarinnen und comadres – aus Stein und Wellblech ihre erste eigene Behausung baute und diese zu verteidigen hatte. Gerade die Frauen nahmen eine federführende Rolle in der Errichtung Santo Domingos ein und wurden bald als zentrale Entscheidungsträgerinnen angesehen (Gutmann 1996: 32). Da ihre Männer meist weiterhin in der Stadt arbeiteten, lag es häufig an ihnen in mühsamer Arbeit Vulkangestein zu zerschlagen. Sie kletterten über das felsige Gestein, bildeten Barrikaden und Menschenketten, um Außenstehende davon abzuhalten, ihr neu gewonnenes Land zu betreten. Das Haus der fundadora, das, wie sie stolz erzählte, über einen der ersten Wasser- und Stromanschlüsse im Viertel verfügte, ist inzwischen zweistöckig und aus Stein.

Doch nicht nur im Innern des Hauses machte sie die Erinnerung fest, sondern auch an den Straßenzügen, die noch häufig von der Unerfahrenheit ihrer Baumeister zeugen. Aber auch an anderen Orten begegnete ihr manifestierte Geschichte. Gemeinsam besuchten wir ein im Südwesten an Santo Domingo angrenzendes Naturschutzgebiet, das sich um einen See herum ausbreitet. Vor Jahrhunderten entstand dieser als Folge des Ausbruchs des nur etwa 25 km entfernten Vulkans Xitle. Früher spielten hier Kinder am Ufer des kristallklaren Wassers, die Bewohner und Bewohnerinnen Santo Domingos wuschen gemeinsam Kleidung – bis zur Sperrung des Gebiets durch die Universität. Der Schmerz der Enteignung war der Zeitzeugin auch heute noch anzumerken. Die räumliche Vergegenwärtigung identitätsstiftender Elemente besitzt eine wichtige Funktion für die Gegenwart, da sie diese durch den Rekurs auf die Vergangenheit sinnvoll erklärt (Dürr 2005: 185).

Die gemeinsame Vergangenheit dient allerdings nicht nur der Konstruktion einer Gruppenidentität und als sinnstiftendes, gestaltendes Moment für die Gegenwart, sondern wird auch bewusst als Strategie eingesetzt, um die Interessen des Viertels zu vertreten und der Marginalisierung entgegen zu wirken. Am Bespiel der Escuelita zeigt sich, dass der spezifische Entstehungskontext als Argument gilt, um politische Forderungen zu stellen und finanzielle Ressourcen zu erhalten.

Durch die zielgerichtete Reproduktion und Vermarktung der Geschichte in Form von Büchern, Zeitungsartikeln, Fernsehberichten und CDs hat das Viertel international Aufmerksamkeit erregt. Eine Konsequenz dieser medialen Präsenz ist die zunehmende touristische Erschließung der colonia. So existiert seit 2005 ein Homestay-Programm, an dem auch wir teilgenommen haben. Die Familien erhalten Geld für die Unterkunft und die Verpflegung der Touristen, erwerben dadurch aber auch weltweite Kontakte und Netzwerke.

Die Bewohner und Bewohnerinnen Santo Domingos haben gelernt, ihre Geschichte für sich zu nutzen. Sie funktioniert einerseits als Identitätsstifterin, andererseits eröffnet sie ihnen eine alternative Einkommensquelle sowie öffentliche, internationale Präsenz. Aus der einst marginalisierten und illegalen Siedlung ist ein selbstbewusstes und berühmtes Viertel von Mexiko-Stadt entstanden.

Literatur:

Assman, Jan (1988). Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Jan Assman und Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9-19.

Dürr, Eveline (2005). Identität und Sinnbezüge in der Stadt. Hispanics im Südwesten der USA. Münster: LIT Verlag.

Gutmann, Matthew C. (1996). The Meanings of Macho: Being a Man in Mexico City. Berkeley, Los Angeles: University of California Press.


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