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Forschungsprojekt: Die Glokalisierung der Depression

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Global zirkulierende psychiatrische Konzepte wie ‘Depression’ werden  innerhalb unterschiedlicher therapeutischer Kontexte in verschiedenen lokalen Realitäten angeeignet, übersetzt, transformiert und mit bestehenden Konzepten kreolisiert. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Patienten die Symptome erleben und erklären. Die Glokalisierung der Depression ist eng verbunden mit Modernisierungsprozessen und der Verwissenschaftlichung  lokaler medizinischer und religiöser Praktiken. Ziel dieses medizinethnologischen Projektes ist eine empirische Untersuchung des „sozialen Lebens der Depression“ in Kerala, sprich der vielfältigen Arten und Weisen, wie ‚Depression‘ in der ayurvedischen Psychiatrie, der Naturopathie, im religiösen und rituellen Heilen sowie in der Pop-Psychologie angeeignet und mit lokalen Konzepten und Idiomen hybridisiert wird. Am Beispiel der Depression untersuchen wir Hybridisierungs- und Übersetzungsprozesse zwischen psychiatrischen und lokalen Idiomen einerseits und zwischen verschiedenen lokalen Idiomen andererseits, die in engem Zusammenhang stehen mit der konflikthaften sozialen Aushandlung dessen, was als modern gilt und was nicht. Darüber hinaus fragen wir, wie sich die Kreolisierung psychiatrischer, psychologischer, physiologischer, sozialer und kosmologischer Erklärungen auf die Leidensidiome der Patienten auswirkt. Ziel ist es, die multiplen und komplexen Verflechtungen im sozialen Leben der Diagnose ‚Depression‘ in Kerala empirisch zu erforschen.

Weltweit werden immer mehr Menschen als depressiv diagnostiziert. Laut WHO wird Depression im Jahre 2020 das zweithäufigste Gesundheitsproblem sein. In Kerala wird die steigende Depressionsrate meist sozioökonomischen Veränderungen wie der zunehmende Zerfall der Großfamilie, dem extremen Wettbewerb in Schulen und auf dem Arbeitsmarkt, der damit verbundenen hohen Migrationsrate in Golfländer und der daraus resultierenden „Golf-Depression“ für daheimgebliebene Ehefrauen, der Kluft zwischen vermeintlich erreichbarem luxuriösen Lebensstil und tatsächlichen ökonomischen Möglichkeiten, dem zunehmendem Egoismus und westlichen Werten, kurz mit dem Verlust von (traditioneller, keralesischer) „Kultur“ erklärt. Aus medizinethnologischer Perspektive wird die hohe Depressionsrate auch durch die Erosion von lokalen Leidensidiomen wie Besessenheit oder Hexerei und die zunehmende Medikalisierung bzw. Psychiatrisierung von Leiden erklärt.

Mit dem Anstieg der diagnostizierten „Depression“ steigt auch die Nachfrage nach ihrer Behandlung. Obwohl Kerala im Vergleich zu anderen indischen Staaten die höchste Dichte an biomedizinisch-psychiatrischen Einrichtungen und Ärzten hat, stehen Patienten und deren Familien parallel dazu eine Vielzahl indigener diagnostischer und therapeutischer Praktiken für die Behandlung von psychischen Erkrankungen (manasika rogangal) zur Verfügung.  Neben Praktizierenden von Ayurveda und Naturopathie sind das Astrologen, Hindu pujari und mantravadi, christliche Priester sowie muslimische thangal. Als Teil des Versuchs, sich mit der Moderne zu arrangieren, wird das durch ICD-10 und DSM-IV global gemachte Konzept der Depression in diesen Systemen und Praktiken übersetzt und transformiert. Auf der Basis von Globalisierungstheorien, die die transformative Macht indigener Aneignung und Differenzierung betonen, untersuchen wir die vielfältigen Arten und Weisen, wie ‚Depression‘ innerhalb dieser unterschiedlichen therapeutischen Institutionen und Praktiken verhandelt und angeeignet wird. Weiterhin ist es unser Ziel, die Konsequenzen dieser vielfältigen Verflechtungen auf das Erleben und die Erklärungsmodelle von Patienten und deren Familien zu erforschen.

Unser gegenwärtiger Fokus liegt dabei auf der Aneignung der ‚Depression‘ und auf Übersetzungsprozessen innerhalb der ayurvedischen Psychiatrie und der Naturopathie im staatlichen wie privaten, im klinischen wie im akademischen Kontext sowie auf der Interaktion mit religiösem oder Folk-Heilen in Kerala. Ayurveda wie Naturopathie werden als „Indische Medizinsysteme“ vom AYUSH Department der indischen Regierung anerkannt und gefördert. Beide gibt es sowohl in institutioneller als auch in informeller Form. Beide Arten von Praktizierenden sind entweder (meistens) formell an College mit den entsprechenden Abschlüssen oder innerhalb einer Familientradition ausgebildet, manche auch auf andere informelle Weise, und praktizieren entweder mit oder ohne offizielle Erlaubnis.

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG (HE 2034/18-1) seit 2009.

Projektleiter: Prof. Dr. Frank Heidemann

Mitarbeiterinnen: Dr. Claudia Lang, Eva Jansen, M.A.