Ethnologie
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15.12.2024

Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. München: C.H. Beck. 2024

Bemerkenswerterweise kommt die Ethnologie in der Person Claude Lévi-Strauss‘ in Uwe Wittstocks historischem Roman „Marseille 1940“ ähnlich sparsam vor wie Lévi-Strauss‘ Ex-Frau Dina Dreyfus in den „Traurigen Tropen“. Auf denen ersten Blick spielt die Ethnologie in der ‚großen Flucht der Literatur ‘ auch keine zentrale Rolle. Auf den zweiten Blick eröffnet sich ein weiter Kontext: Im Flaschenhals Marseille, dem einzigen französischen Hochseehafen, den das französische Vichy-Regime kontrolliert, tritt sich 1940 das intellektuelle Milieu Europas auf die Füße, um dem Nationalsozialismus und damit Folter und Tod zu entkommen. Man darf sich ein eigenartiges Szenario vorstellen, Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen, Schriftsteller*innen, Schauspieler*innen, Maler*innen, Mäzen*innen, Philosoph*innen und Wissenschaftler*innen, durch Flucht, Lagerhaft und Perspektivlosigkeit geprüft und entkräftet, debattieren über Surrealismus, Stalin und darüber, wie man an ein Visum in ein sicheres Aufnahmeland kommen kann. Wittstocks Roman erzählt diese Szenerie aus der Perspektive Varian Frys, eines amerikanischen Journalisten, der Leben retten will und deshalb in Marseille die legale und illegale Aus- und Weiterreise Hunderter organisiert. Die Ethnologie spielt in diesem Gewimmel der großen Köpfe nicht die wichtigste Rolle, aber Claude Lévis-Strauss ist eben auch dabei - und schließlich mit auf dem rettenden Schiff, der Capitaine Paul Lemerle, nach Martinique. Die nicht nur freiwillige Zeit miteinander gerät Lévi-Strauss - auch in seiner Zeit im New Yorker Exil, an der New School of Social Research - zu einem kreativen interdisziplinären Austausch, der aus seinem Werk ebenso wenig wegzudenken ist wie die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges aus der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts.
„Fry und seinen Leuten ist es gelungen, auf dem Schiff vierzig Plätze für Klienten des Centre [Americain de Secours] zu sichern. Sie sind stolz auf ihren Erfolg, jedes Ticket hat sie rund 10000 Franc gekostet. Unter denen, die endlich abreisen können, sind André Breton und Victor Serge mit ihren Familien, der Maler Wilfredo Lam und - darüber ist Fry besonders froh - zwei der vier Männer der alten Widerstandsgruppe Neu Beginnen, die Mary Jayne Gold im Oktober aus [dem Lager] Le Vernet vorübergehend loseisen konnte, deren Flucht dann aber scheiterte. Auch andere Hilfsorganisationen haben für ihre Kandidaten Tickets ergattert. Anna Seghers ist mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern an Bord, zusammen mit Alfred Kantorowicz und seiner Frau. Außerdem noch ein junger hochbegabter Ethnologe jüdischer Herkunft, Claude Lévi-Strauss, für den die Rockefeller Foundation in New York die Überfahrt bezahlt“ (298-299).

Unweigerlich lässt der Blick in die Geschichte nach dem Jetzt fragen: Wer flieht heute, wer kuckt hin, wer hilft? Und auch: Wie wird aus biographischer Erfahrung Theorie …und Literatur?

Magnus Treiber

2024-cover-bild15

Cover: https://imageservice.azureedge.net/api/getimage?productId=36359417

Leseprobe:
https://cdn-assetservice.ecom-api.beck-shop.de/productattachment/readingsample/15257449/36359417_leseprobe%20marseille%201940.pdf




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