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06.12.2024
Eduardo Kohn (2023). Wie Wälder denken: Anthropologie jenseits des Menschlichen. Berlin: Matthes & Seitz.
Radeln Sie am linken Isarufer vom Institut durch den Englischen Garten nach Norden, wird Ihnen knapp oberhalb des Stauwerks Oberföhring, ein paar Meter nördlich des Unteren Wehrbachs eine kleine Baumgruppe auffallen. Sie können sie gar nicht übersehen. Mitten in der Wiese stehen drei große Stieleichen in so markanter Formation, sobald Sie die Bäume sehen, werden sie wissen, welche ich meine. Ihre Äste wachsen ausschließlich nach außen. Auf der Innenseite des von ihnen gebildeten gleichseitigen Dreiecks sind sie vollständig astlos. Ich weiß nicht mehr, wann es war, aber irgendwann fing ich an, sie Athos, Porthos und Aramis zu nennen. Wie die drei Musketiere, die von den Truppen des Kardinals angegriffen werden, stehen sie Rücken an Rücken und schwingen ihre Degen nach außen. Wenn ich an ihnen vorbeifahre, frage ich mich jedes Mal aufs Neue: Wie haben sie es geschafft, in genau dieser Formation zu wachsen? Haben sie in irgendeiner Weise miteinander kommuniziert?
Kommt darauf an, was wir unter „kommunizieren“ verstehen. Die Vorstellung, dass Bäume sich „absprechen“, dass sie, mit anderen Worten, zu symbolischer Interaktion fähig wären, klingt wenig überzeugend. Aber gibt es womöglich Kommunikationsformen unterhalb der Schwelle des Symbolischen? Genau hier setzt Eduardo Kohn an. Was, so fragt er in Wie Wälder denken, was wäre, wenn wir die Fähigkeit zu aktiver Wahrnehmung, Semiose und Kommunikation nicht ausschließlich Menschen zuschrieben, sondern sie auch nicht- menschlichen Akteuren zugestünden?
Das mag auf den ersten Blick sonderbar klingen, tatsächlich aber kommt auch ein guter Teil menschlicher Zeichendeutungsprozesse ohne symbolische Referenz aus. Wenn wir den Kopf einziehen, weil wir durch den Regen laufen, dann sind dafür keine rationalen Überlegungen verantwortlich. Wenn wir, wenn uns beim Radfahren eine Windbö aus dem Gleichgewicht zu bringen droht, gegensteuern und einen Sturz vermeiden, gelingt uns das, ohne dass wir uns über physikalische Theorien Gedanken machten. In beiden Fällen reagieren wir unmittelbar (d.h. ohne Vermittlung durch ein symbolisches Drittes oder ein Zeichen) auf die Gegebenheiten unserer Umwelt. Kohn argumentiert nun, dass solche Reaktionen stets das Ergebnis semiotischer Prozesse sind. Dass in diesen Fällen die Reaktion selbst das Zeichen ist und einen „Denkprozess“ repräsentiert. Entsprechend „denken“ für ihn nicht nur auch nicht-menschliche Lebewesen – Tiere, Pilze, Pflanzen und Bakterien – sondern auch Ameisenstaaten, eine Menschenmenge auf einem Fußgängerüberweg, Universitätsseminare und ganze Ökosysteme.
Das ethnographische Grundgerüst des Buches bildet Kohns Feldforschung bei den Runa, einer indigenen Gemeinschaft im ecuadorianischen Amazonasgebiet. Bezugnehmend auf die semiotische Theorie von Charles Sanders Peirce, beschreibt Kohn, wie im Regenwald nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen Zeichen interpretieren und darauf reagieren. „Leben ist Semiose“, lautet entsprechend eine der Hauptthesen des Buchs. Das Konzept der „nichtmenschlichen Semiotik“ zeigt, wie alle Lebewesen sich durch Zeichen verständigen, ja, wie die Evolution des Lebens selbst als endloser Prozess der Zeichenproduktion und -deutung betrachtet werden kann.
Die dabei praktizierte Art des nicht-symbolischen „Denkens“ öffnet den Blick für ein dynamisches Verständnis von Ökosystemen, in dem jede Interaktion Teil eines umfassenden Netzwerks aus Zeichen und Bedeutungen ist. Das Buch lädt so dazu ein, ein radikal erweitertes Verständnis von Leben und Kommunikation zu entwickeln. Es verbindet in origineller Weise ethnographische Detailbeobachtungen mit Anthropologie, Philosophie, Ökologie und Semiotik und überführt sie in ein neues, holistisches Verständnis davon, was es bedeutet, Teil einer „Umwelt“ zu sein. Damit liefert es zugleich wunderbares Beispiel für eine posthumanistische Perspektive, die den traditionellen anthropozentrischen Blickwinkel aufbricht und aufzeigt, wie wir als Ethnolog:innen die Grenzen unserer Disziplin sprengen und interdisziplinär arbeiten können, um das Leben als vernetztes und mehr als menschliches Phänomen zu begreifen.
Wie Wälder denken ist ein faszinierendes Werk, das neue Wege im Verständnis von Natur, Leben und Bewusstsein eröffnet. Nicht zuletzt habe daraus gelernt, dass Athos, Porthos und Aramis im Englischen Garten vielleicht nicht „bewusst“ so gewachsen sind, wie sie es sind – dass ihre Formation aber eben auch nicht dem Zufall zu verdanken ist, sondern einer spezifischen Form der (semiotischen) Interaktion.
Thomas Reinhardt