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06.12.2023

Sanaa Alimia (2022): Refugee Cities. How Afghans Changed Urban Pakistan. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.

Refugee Cities zeigt auf, wie globale Konflikte den Alltag von Geflüchteten aus Afghanistan in Pakistan prägen. Von der sowjetischen Invasion 1978 bis in die Gegenwart hat Pakistan Millionen von Afghan*innen – in erster Linie Paschtun*innen – aufgenommen und auch immer wieder nach Afghanistan zurückgeschickt. In den 1980er Jahren wurden die Geflüchteten zunächst in Flüchtlingsdörfern untergebracht, viele zogen aber auch in die pakistanischen Großstädte, vor allem nach Karachi und Peshawar. Alimia beschreibt das Alltagsleben der Afghan*innen in diesen beiden Städten, in oft irregulären Siedlungen an ihren Rändern. In der übergroßen Mehrheit arbeiteten sie im informellen Sektor und hatten keine Möglichkeit, ihren Aufenthalt zu regularisieren.

Bevor sie auf die beiden refugee cities eingeht, gibt Sanaa Alimia einen Abriss der Geschichte der Beziehung der britischen Kolonialmacht zu Afghanistan, dessen Kolonisierung den Briten nie gelungen ist. Die Grenze, die sie zwischen „Indien“ (heute Pakistan) und dem Nachbarland zogen, wurde von Afghanistan nie anerkannt. Ganz überwiegend leben auf beiden Seiten der Grenze Paschtunen.

Auch wenn Pakistan die Flüchtlinge lange wohlwollend aufgenommen hat, blieb ihr Aufenthalt in rechtlicher Hinsicht immer marginal und prekär. Anfangs wurden die Flüchtlinge registriert, später nicht mehr. Weil es verschiedene Phasen der „freiwilligen“ Rückkehr nach Afghanistan gab, teils von IOM und UNHCR gefördert, und, aufgrund der katastrophalen Situation dort, auch der Remigration nach Pakistan, hatten die pakistanischen Behörden kaum noch einen Überblick über die Zahl der Afghan*innen im Land. 2006 wurden daher im Zuge der digitalen Erfassung der gesamten pakistanischen Bevölkerung „Proof of Registration Cards“ (POR) für die Afghanen eingeführt. Sie gaben den Afghan*innen kein Aufenthaltsrecht, machten sie aber für die pakistanischen Behörden besser kontrollierbar. Mit dem Prozess der Registrierung und dem damit verbundenen everyday bordering befasst sich der dritte Teil des sehr lesenswerten Buches.

Dass die POR-Karten keine Sicherheit geben, zeigt die aktuelle Entwicklung, auf die das Buch nicht mehr eingehen kann. Anfang Oktober 2023 verkündete die pakistanische Regierung – eine nicht gewählte Übergangsregierung – dass 1,7 Millionen „illegaler“ Einwanderer – und damit waren die Afghan*innen gemeint – bis zum 1. November 2023 das Land verlassen mussten. Nach dieser Frist würden sie inhaftiert und abgeschoben. Auch vorher gab es schon Verhaftungen, auch von Menschen mit POR-Card. Die Ankündigung löste einen Massenexodus aus: Hunderttausende versuchten, Pakistan rechtzeitig zu verlassen, um schlimmere Konsequenzen zu vermeiden. Viele von ihnen hatten seit Jahrzehnten in Pakistan gelebt und besaßen in Afghanistan nichts. Ihre Besitztümer in Pakistan mussten sie größtenteils zurücklassen. Irreguläre Siedlungen wurden etwa in Islamabad mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht. Die Taliban-Regierung ist auf den Ansturm keineswegs vorbereitet und bat die pakistanische Regierung, die Afghan*innen nicht zu vertreiben, ist die Lage in Afghanistan doch ohnehin katastrophal. Ohne Erfolg. Nun hausen tausende auf der afghanischen Seite der Grenze in provisorisch errichteten Lagern.
Welche Folgen diese Entwicklungen für die Afghan*innen hat, die in Pakistan als in Afghanistan besonders gefährdete Menschen auf die Ausreise per Bundesaufnahmeprogramm nach Deutschland warten, ist unklar. Während die britische Regierung beschleunigt Afghan*innen für ein britisches Aufnahmeprogramm ausgeflogen hat, verlässt sich die Bundesregierung darauf, dass die pakistanischen Behörden die Kandidat*innen für das Bundesaufnahmeprogramm nicht nach Afghanistan abschieben. Sicher ist das keineswegs.

Martin Sökefeld

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