Ethnologie
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11.12.2025

Leo N. Tolstoi (2002): Krieg und Frieden [Moskau 1868/69]. Übersetzt von Marianne Kegel. Düsseldorf: Albatros/Patmos-Verlag

In der 70er Jahre TV-Serie M*A*S*H findet der einfache, aber herzliche Corporal „Radar“ O’Reilly, alias Gary Burghoff, Tolstois dicken Roman-Band im Gepäck einer Krankenschwester - die Serie spielt in einem Militärlazarett im Korea-Krieg (1950-1953). Entgeistert entfährt ihm: „War AND peace?“
Glaubt man verschiedenen Besprechungen, dann veranschaulicht der erzählerische Realismus Tolstois Geschichte in besonderem Maße. Das mag sein, wenn man ein Faible für Wirren und Wandel des politischen Europas dieser Zeit hat, interessant ist das allemal. Als Ethnologe hat mich aber etwas anderes gepackt. Tolstoi entwirft ein Konzept sozialen Handelns, das das Situative und Unmittelbare immer im Lichte größerer Konstellationen und Dynamiken sieht, die, von vielen geschaffen, keiner individuellen Kontrolle unterliegen. Damit stellt er sich immer wieder und ganz ausdrücklich gegen eine Geschichtsschreibung eitler und genialer Helden. Feinsinnig illustriert und expliziert er, welchen Beschränkungen und äußeren Entwicklungen auch die Entscheidungen der Mächtigen dieser Zeit unterliegen. Gleichzeitig ist Handeln nicht beliebig, es reift in gesellschaftlichen Kreisen und Milieus heran und bestimmt diese mit.
Erzählt werden die Jahre der historischen, napoleonisch-zaristischen Kriege (1805 und 1812) über die ineinandergreifenden Schicksale der fiktiven adeligen Familien Bolkonskij, Besuchow und Rostow, die sich in ersten gesellschaftlichen Kreisen bewegen. Allerdings bleiben die Salons der Reichen in Moskau und Sankt Petersburg an die ferne bäuerliche Arbeitswelt geknüpft, die ihnen den privilegierten Lebenswandel erst ermöglicht. Während bei Dinner und Tanz Heiratspolitik und Karrieren gemacht, politische Intrigen gesponnen und militärische Strategien erhitzt diskutiert werden, sät moderne Artillerie auf dem Schlachtfeld den massenhaften Tod. In Kriegs- wie in Friedenszeiten wird verführt und duelliert, geliebt und der Liebe aus Gründen finanzieller Familieninteressen auch wieder entsagt. In kleinen Gesten wird Solidarität und Menschlichkeit geübt, aber auch verraten und im Stich gelassen. Handeln findet in komplexen Verstrickungen statt und ist in der Folge nachvollziehbarer als im Moment des Handelns selbst.

„Ganz […] nach ihren persönlichen Eigenschaften, Gewohnheiten, Gründen und Zielen, handelten alle die unzähligen Persönlichkeiten, die an diesem Krieg teilnahmen. Sie fürchteten sich, prahlten, freuten sich, waren unzufrieden und fällten Urteile, immer in dem Glauben, daß sie wüßten, was sie täten, und alles selbständig, aus sich heraus vollbrächten, und doch waren sie alle nur unfreiwillige Werkzeuge der Geschichte und erfüllten eine ihnen verborgene, uns aber verständliche Aufgabe. Dies ist das unabänderliche Schicksal aller im praktischen Leben tätigen Menschen, die um so unfreier sind, je höher sie auf der Stufenleiter menschlicher Rangordnung stehen.
Jetzt sind die im Jahre 1812 Mitwirkenden längst vom Schauplatz abgetreten, ihre persönlichen Interessen sind spurlos verweht, und nur die geschichtlichen Tatsachen jener Zeit liegen noch vor und uns.“ (934-935).

Klar und lakonisch beschreibt Tolstoi die Mimik von Offizieren, die Tötungen anordnen, und von Soldaten, die sie ausführen. Sie scheinen sich der Verantwortung wohl bewusst, ihre Flucht in den Sachzwang bleibt vorgeblich. Auch dem gutmütig schrägen, stets sinnsuchenden Grafen Pierre Besuchow erspart Tolstoi existentielle Tiefen nicht. Als französischer Gefangener auf dem entbehrungsreichen Rückzug aus Moskau versagt er einem todgeweihten, befreundeten Mitgefangenen schließlich die Solidarität, eine eindrücklich psychologisierende Szene - verfasst immerhin zwei Jahrzehnte vor Arthur Schnitzlers „Sterben“ (1894). Über Krieg UND Frieden sind wir indes nicht hinaus.

Magnus Treiber

2025-12-11-Bild-Beitrag-Treiber 



 


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