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08.12.2025
Didier Fassin (2025): Moral Abdication. How the World Failed to Stop the Destruction of Gaza. London: Verso. 128 Seiten.
In zahlreichen Artikeln und Büchern hat Didier Fassin humanitäre Interventionen kritisch untersucht und dabei stets herausgearbeitet, dass Humanitarismus, von ihm verstanden als das Eindringen moralischer Gefühle in die Politik, zwar auf der Idee gemeinsamer Menschlichkeit beruht, aber keineswegs alle Menschen als gleichwertig betrachtet und behandelt. Im Gegenteil, humanitäre Interventionen perpetuieren etwa die Ungleichheit von Gebenden und Nehmenden, auf die sie gegründet sind. Und oft genug dient der humanitäre Impetus, das Leid anderer zu lindern, nur der Camouflage von Machtinteressen.
In seinem aktuellen Buch über die „moralische Abdankung der Welt“, das 2024 unter dem Titel Une étrange défaite: Sur le consentement à l'écrasement de Gaza auf Französisch erschienen ist, analysiert Fassin nun die Verweigerung humanitärer Interventionen während der ersten sechs Monate des Kriegs in Gaza. Er zeigt auf, dass die meisten westlichen Regierungen nach dem Massaker der Hamas vom 7. 10. 2023 das Narrativ der israelischen Regierung übernahmen und die Perspektiven, die Erfahrungen und das Leid von Palästinenser*innen weitgehend missachteten. Fassin zufolge ging das so weit, dass schon die Forderung nach humanitärer Intervention in Gaza als Antisemitismus denunziert und daher abgelehnt wurde. Israelische und palästinensische Leben wurden extrem ungleich bewertet. Die totale Zerstörung von Gaza und die Missachtung des Leidens der Palästinenser*innen ist für ihn ein Verrat an den Werten, die der Westen so lange als grundlegend propagiert hat; ein Verrat, der die vom Westen so lange beanspruchte moralische Autorität ad absurdum geführt hat und nicht folgenlos bleiben wird.
Gaza ist ein Beleg dafür, dass die Welt längst in eine posthumanitäre Ära eingetreten ist. Das dünne Buch ist keine angenehme Lektüre. Es führt dazu, dass man sich bei aller Kritik am Humanitarismus nach der Zeit zurücksehnt, in der sich Ungleichheit in humanitären Einsätzen ausdrückten und nicht in ihrer Verweigerung.
Martin Sökefeld

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