Ethnologie
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07.12.2022

Whyte, William Foote. Die Street Corner Society: Die Sozialstruktur eines Italienerviertels, Berlin, New York: De Gruyter, 1996. https://doi-org.emedien.ub.uni-muenchen.de/10.1515/9783110809640

„Bald fand ich heraus, daß die Leute ihre eigene Erklärung für mich und meine Anwesenheit entwickelten: Ich schriebe ein Buch über Cornerville, hieß es. Dies mag sich wie eine viel zu unklare Erklärung anhören, aber sie war ausreichend. Ich entdeckte, daß der Grad meiner Akzeptanz im Viertel viel mehr von den persönlichen Beziehungen, die ich entwickelte, abhing als von irgendwelchen Erklärungen, die ich geben konnte. Ob es eine gute Sache war, ein Buch über Cornerville zu schreiben, hing völlig von der Meinung der Leute über mich persönlich ab. Wenn ich in Ordnung war, war auch mein Projekt in Ordnung; wenn ich nicht okay war, konnten noch so viele Erklärungen sie nicht überzeugen, daß das Buch eine gute Idee sei“ (1996: 302).

Street Corner Society ist sicher eine der Ethnographien, die den größten Eindruck auf mich gemacht haben. In den späten 30er Jahren macht sich der Professorensohn William Foote Whyte von Harvard aus auf, um die wenig privilegierte Lebenswelt italienischer Immigrant_innen im nahen ‚Cornerville‘ kennenzulernen. Hier ist tatsächlich erst einmal vieles anders und dem ehrgeizigen jungen Feldforscher unterlaufen so ungefähr alle Fehler, die man eben so macht, wenn man ethnographisch zu arbeiten beginnt. Gut, dass ihn Doc - ein Eckensteher im Viertel, der sich zu behaupten gelernt hat - an die Hand nimmt und zusammen mit seinen Jungs manches Missverständnis glättet.

Whyte gelingt es, seine Erfahrungen und Interpretationen offenzulegen und ein Stück weit das zu reflektieren, was man heute Positionalität nennt. Freilich konnte dem Buch später unzulässige Stereotypisierung vorgeworfen werden. Das ist sicher nicht ganz falsch, aber eben auch der notwendig eingeschränkten Perspektive geschuldet. Auch der unkonventionelle Stil, der weitgehend auf die Standards akademischen Schreibens verzichtet, brachte Whyte Probleme bei der Anerkennung seiner Promotionsleistung ein. Und dennoch wurde das Buch zurecht zum Klassiker - auch wenn die später hinzugefügten Anhänge fast besser geschrieben sind als der eigentliche Hauptteil. Anhang B, übrigens, ist von Angelo Ralph Orlandella verfasst, der in der Ethnographie als Doc auftritt. Und damit emanzipiert sich Whyte endgültig von den (ihrerseits faszinierenden) Stadtethnographien der Chicago School der 1920er Jahre, die meist von oben nach unten blicken, und praktiziert Aktionsforschung avant la lettre. Nicht zuletzt wird dieses Buch unverzichtbar finden, wer wissen will, wie man beim Bowling unfehlbar gewinnt.

Magnus Treiber

Adventskalender 2022 Bild 07 




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