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Santo Domingo - Gestaltung des Viertels

Gestaltung des eigenen Lebensraums in der colonia „El Pedregal de Santo Domingo“ in Mexiko-Stadt

Inga Braukmann und Katharina Heppner

Im Folgenden werden verschiedene soziale Projekte in Santo Domingo vorgestellt, die beispielhaft verdeutlichen, wie soziale Beziehungen und politische Vernetzungen ge-nutzt werden, um aktiv an der Gestaltung des eigenen Lebensraums mitzuwirken. Dabei soll das ständige Wechselspiel von Lokalität und Globalität deutlich werden, das so-wohl die lokale Identitätsbildung beeinflusst als auch dazu beiträgt, Santo Domingo international sichtbar zu machen.

Eine wichtige soziale Einrichtung des Viertels ist die „kleine Schule“, die „Escuelita Emiliano Zapata“. Hier werden Mal-, Zeichen- und Tanzkurse angeboten, außerdem arbeitet die Einrichtung mit einem lokalen Künstlerhaus zusammen. Es werden in allen möglichen Verfahren T-Shirts und Papier bedruckt, Kunst aus Altglas hergestellt und vieles mehr. Auch nationale und internationale Künstler und Künstlerinnen waren hier schon zu Besuch und verkauften ihre Werke in den Ateliers, wodurch verschiedene kul-turelle und soziale Aktivitäten im Viertel auch über die Grenzen Mexikos hinaus be-kannt geworden sind. Die Escuelita ist mittlerweile auch im Internet vertreten: in einem YouTube-Video präsentiert sie sich als kultureller Treffpunkt, der die Geschichte und Identität der Einwohner und Einwohnerinnen Santo Domingos widerspiegelt und auch auf Facebook ist die Einrichtung als Centro de Artes y Oficios mit einem eigenen Profil zu finden. Auf diese Weise erfährt Santo Domingo über die Escuelita sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene eine gewisse Reputati-on, die sowohl zu einer positiven Repräsentation nach außen als auch zum Fortbestehen wichtiger sozialer Vernetzungen innerhalb der selbstbewussten Gemeinde beitragen. Es bleibt allerdings anzumerken, dass trotz dieser Erfolge Konflikte nicht ausbleiben und unterschiedliche Interessen konkurrieren.

Gegenwärtig existieren mehrere soziale Projekte in Santo Domingo, die vorwiegend mit dem Ziel entstanden sind, die eigene comunidad zu unterstützen. Während unseres Aufenthalts arbeitete der Verein Amigos de Santo Domingo aktiv an einem Müllprojekt. Im Gegensatz zu Gutmanns Aufzeichnungen aus dem Jahr 1993 (Gutmann 2009: 26) lassen sich heute bei der Müllentsorgung durchaus Regelmäßigkeiten erkennen und von der Stadt finanzierte Arbeiter sind fast täglich mit Lastwagen oder kleinen Besenkarren unterwegs. Das Müllprojekt des Vereins hat eher symbolischen Charakter und soll dazu beitragen, ein größeres Bewusstsein der Bürger und Bürgerinnen für die wachsende Müllproblematik zu schaffen.

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Unterstützung beim Müllprojekt in Santo Domingo. Foto: Inga Braukmann

Des Weiteren arbeitet der Verein derzeit an Projekten zur agricultura urbana. In diesem Rahmen will die asociación Kurse für die Bewohner und Bewohnerinnen anbieten, um Wissen über Hydrokultur und Kompostierung zur Entwicklung einer urbanen Landwirtschaft zu vermitteln. Bei diesem Projekt soll der Eigenanbau von Obst und Gemüse in Gewächshäusern der einzelnen Haushalte gefördert werden. Durch die natürliche Wurmkompostierung entsteht Humus und Dünger, der anschließend für den Anbau von landwirtschaftlichen Produkten verwendet wird. Der Verein verfolgt mit diesem Projekt mehrere Ziele:

1. Schaffung von Arbeitsplätzen

2. Stärkung des Zusammenhaltes in der Gemeinde durch interpersonel-len/interfamiliären Handel

3. Angebot von qualitativ hochwertigeren Produkten für die Anwohner und Anwohnerinnen (kürzere Transportwege, frisches Obst und Gemüse)

4. Erweiterung der Produktpalette (Kritik am kapitalistischen Marktsystem der Großhändler, dass nur bestimmte Sorten zu vorgegebenen Preisen angeboten werden)

5. Politisches Statement für die Unabhängigkeit von Importen subventionierter Lebensmittel aus den USA

Die Ansichten unseres Interviewpartners zu diesen Zielen lassen sich auch in den Worten Estevas wiederfinden, als er von einer notwendigen Agenda für die positive Entwicklung von grassroots Initiativen in Mexiko spricht:„People’s abilities to sustain themselves and their vital autonomy should be a major growth area.“ (Esteva 2009: 279).

Trotzdem bleibt anzumerken, dass sich solche grassroot- Projekte nicht in völliger Autonomie auf lokaler Ebene realisieren lassen, sondern auch auf Unterstützung von Seiten der Regierung angewiesen sind. Mehrere der sozialen Projekte in Santo Domingo erhalten staatliche Unterstützung, vor allem in finanzieller Hinsicht. Der Status eines eingetragenen Vereins hat dazu beigetragen, dass die Asociación Civil der Amigos de Santo Domingo finanzielle Hilfen von der Regierung beantragen kann. Seit seiner Gründung hat der Verein bereits 25 Kredite für private Projekte oder Initiativen aus unterschiedlichen Geschäftsbereichen erhalten, wobei es sich meist um Mikrokredite für private Unternehmensideen handelt. Beispielsweise konnten so diverse kleine Unternehmen vor Ort bereits mit Krediten zwischen umgerechnet ca. 10.200 und 25.500 Euro unterstützt werden. Laut den Angaben des Koordinators beinhalten diese Projekte mehr als die bloße finanzielle Unterstützung und lassen sich eher dem Konzept „Hilfe zur Selbsthilfe“ zuordnen. Es wurde uns gegenüber immer wieder betont, dass die Projekte im Gegensatz zu den despensas, Lebensmittelrationen, die vom Staat an bedürftige Bürger verteilt werden, auch Arbeitsplätze schaffen und so zur positiven Entwicklung der Gemeinde beitragen würden.

Eine weitere wichtige soziale Institution, die mit staatlichen Geldern finanziert wird, ist die lechería. SEDESOL (Secretaría de Desarrollo Social) arbeitet mit dem milchproduzierenden Unternehmen Liconsa zusammen, um möglichst allen Mexikanern und Mexikanerinnen die Möglichkeit zu geben, sich mit vergünstigter, aber qualitativ hochwertiger Milch gesund und bewusst zu ernähren. Jede Woche kommt ein Sozialarbeiter nach Santo Domingo und stellt anhand von Interviews bzw. Fragebogen fest, welche Familien für eine registrierte Karte zum Erhalt dieser subventionierten Milch berechtigt sind. Über Angaben wie z.B. Alter, Anzahl der Kinder oder monatliches Einkommen werden die Personen von der Regierung dafür in unterschiedliche „Armutskategorien“ eingestuft. Außerdem werden auch noch andere Lebensmittel vergünstigt verkauft, z.B. Tortillas und süßes Brot. Pro Tag werden in der lechería durchschnittlich 1.680 Liter Milch verkauft.

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Mitarbeit in der lechería. Foto: Inga Braukmann

Wir erfuhren aus Gesprächen, dass es diese Institution, die auf nationaler Ebene in allen comunidades agiert, bereits seit ca. 30 Jahren gibt. Liconsa definiert sich selbst als gemeinnützige Institution der Regierung, die von politischen Parteien unabhängig sei (vgl. ebd.). Die Mitarbeiter aus der lechería arbeiten ehrenamtlich. Auf Nachfrage haben wir erfahren, dass nur die lokale Koordinatorin der lechería in Santo Domingo einen festen Lohn erhält sowie ein Mitarbeiter von Liconsa, der täglich die Einnahmen zur Bank bringt. Aus Gesprächen über einen rezenten Überfall auf die lechería und Falschgeldfunde wurde deutlich, dass Santo Domingo durchaus nicht frei von Vernetzungen krimineller und korrupter Strukturen ist. Solche Vorkommnisse sollen durch die tägliche Anwesenheit eines Polizisten während der Öffnungszeiten verhindert werden.

Ein weiteres soziales Projekt, das wir während unseres Aufenthaltes in Santo Domingo kennen lernen konnten, ist ein Behindertenprojekt, welches der Vater eines behinderten Mädchens ins Leben gerufen hatte. Im Gegensatz zu den anderen genannten Initiativen wird dieses Projekt (noch) nicht von der Regierung gefördert. Familien mit behinderten Kindern bekommen in Mexiko laut unserem Gesprächspartner keine staatliche Unterstützung. Das Projekt soll die mangelnde medizinische Versorgung und Betreuung der betroffenen Kinder kompensieren sowie einer gesellschaftlichen Stigmatisierung und der damit verbundenen sozialen Ausgrenzung entgegenwirken. Im Rahmen dieses Projektes treffen sich behinderte Kinder aus Santo Domingo mit ihren Eltern im alten Theater der Gemeinde und beschäftigen sich mit verschiedenen künstlerisch-kreativen Arbeiten, z. B. mit Malen oder dem Bedrucken von T-Shirts und Stofftaschen. Auf eine Beteiligung der Eltern an diesen talleres wird besonderen Wert gelegt, damit auch sie eine Sensibilisierung für den Umgang mit den körperlichen und geistigen Einschränkungen ihrer Kinder erfahren.

Unser Interviewpartner sprach offen über die bestehenden Vorurteile gegenüber Santo Domingo. Abgesehen davon, dass das Viertels als „lugar feo“, als hässlicher Ort, betitelt würde, gälten die Bewohner und Bewohnerinnen trotz ihrer Pionierleistungen als faul, einfältig und wenig ambitioniert. Er äußerte die Hoffnung, dass wir diesen Außen-zuschreibung nicht einfach folgen würden, sondern durch eigene Erfahrungen ein positiveres Bild der Gemeinde gewinnen könnten. Trotz der Kürze unseres Aufenthalts ist uns deutlich geworden, dass – entgegen bestehender Stereotypen in Bezug auf Armutskategorien und daraus resultierende Haltungen wie Desinteresse oder Passivität – Beziehungen und Verflechtungen bis in höchste politische Ebenen genutzt werden, um die Entwicklung des eigenen sozialen Lebensraumes aktiv mitzugestalten und zu einem „buen vivir“ im Sinne Estevas beizutragen: “Opportunities and favorable conditions for the good life should multiply, according to how each person and each culture defines the good life.” (Esteva 2009: 279).

Literatur:

Esteva, Gustavo (2009). Mexico: Creating Your Own Path at the Grassroots In: Beltrán, Sergio et al. (Hrsg.): Rethinking Globalization. International Honors Program.

Gutmann, Matthew C. (2009). The Invasion of Santo Domingo. In: Beltrán, Sergio; Esteva, Gustavo et al. (Hrsg.): Rethinking Globalization. International Honors Program.

Nagl, Bettina (2012). “Eso es de lo que vengo viviendo, vivir trabajando.“ Die Lebens-geschichte einer mexikanischen Frau anhand eines narrativ-biographischen Interviews. Österreichisches Lateinamerika-Institut. < http://www.lateinamerika-studien.at/content/lehrgang/strobl_02/strobl-162.html> Revista Digital Universitaria 2009: <http://www.revista.unam.mx/vol.10/num7/art39/int39.htm> [21.05.2012].

Internetquellen:

Escuelita Emiliano Zapata <http://www.facebook.com/pages/Centro-de-Artes-y-Oficios-Escuelita-Emiliano-Zapata/179765332066567?sk=info> [21.05.2012]. <http://www.youtube.com/watch?v=WGUDuJtv4dI> [21.05.2012].

Liconsa <http://www.liconsa.gob.mx/> [21.05.2012].

SEDESOL <http://www.sagarpa.gob.mx/Paginas/default.aspx> [21.05.2012].


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