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Santo Domingo - Allgemein

El Pedregal de Santo Domingo – Die Entstehung eines neuen Stadtteils

Saskia Brill

Im vergangenen Jahrhundert verzeichnete Mexiko-Stadt einen enormen Einwohnerzuwachs. Lebten Anfang des 20. Jahrhunderts noch ca. eine Million Menschen in der mexikanischen Hauptstadt, waren es 1970 neun Millionen und im Jahre 1990 geschätzte 20 Millionen. Die Zuwanderung speiste sich vor allem aus den marginalisierten ländlichen Gebieten Mexikos. Im Jahre 1953 erließ die mexikanische Regierung ein Verbot zur Konstruktion neuer Wohnviertel, um die Ausdehnung der Stadt einzudämmen. Als Folge dieses Verbots stieg die Anzahl der sogenannten colonias populares, Squatter-Viertel oder „Slums“, rapide an. Es war, so Castells, der „schnellste und dramatischste Urbanisierungsprozess in der Geschichte der Menschheit“ (Castells, zitiert in Gutmann 2009:21,34).

Am 1. September 1971 erklärte Präsident Luis Echeverria Álvarez einen angemessenen Wohnraum zum Recht eines jeden Mexikaners und versprach Unterstützung für diejenigen, die unter schlechtesten Bedingungen leben mussten. Im Zuge dessen sollte das ejido, d.h. Agrarland, das sich in Gemeindebesitz befand, zugunsten der dort lebenden Bevölkerung privatisiert werden. Die Vulkangesteinwüste südlich des damaligen Stadtgebietes, die heute noch als pedregal bezeichnet wird, war damals noch nahezu unbewohntes ejido. Die Nachricht verbreitete sich schnell und am 3. und 4. September 1971 besetzten mehrere Tausend Menschen unter dem Leitspruch „Hay tierra!“ („Es gibt Land!“) das Brachland der heutigen colonia Santo Domingo de los Reyes. Ende desselben Monats siedelten dort bereits fast 25.000 Menschen in einfachen, selbst gebauten Hütten. Nach Angaben einer der fundadoras, der Gründerinnen des Viertels, hätten sich insgesamt ca. 100.000 Menschen an der Landnahme beteiligt, viele davon aus indigenen Gemeinden Mexikos. Die Invasion Santo Domingos, die als eine der größten in Lateinamerika gilt, markierte die Geburtsstunde des Stadtviertels, in dem wir uns zehn Tage lang aufhielten.

Wir wohnten bei Gastfamilien, die alle die Invasion und weitere Entwicklung des Viertels miterlebt und mitgestaltet hatten. Ihre Häuser, die nach und nach erweitert wurden, hatten sie weitgehend selbst gebaut. Insbesondere Frauen spielten beim Aufbau Santo Domingos eine zentrale Rolle (Gutmann 1997: 837). In den Anfangsjahren bauten sie in faenas colectivas, in gemeinschaftlich organisierten Arbeitseinheiten, die erforderliche Infrastruktur ohne finanzielle oder technische Unterstützung seitens des Staates auf. Hierbei war das Einebnen des Vulkangesteins zum Bau von Straßen mit besonders schwerer körperlicher Arbeit verbunden. Die fundadoras verteidigten das Viertel auch gegen die Staatsgewalt und gründeten verschiedene Gruppen zur Organisation ihrer colonia. Die Männer hingegen waren nur zeitweise im Viertel anwesend, da sie zum Arbeiten ins Zentrum oder in die Fabriken im Norden der Stadt fuhren (Gutmann 2009: 28).

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Das Haus einer Gastfamilie. Foto: Inga Braukmann

Die heute erwachsenen Kinder der Gründerfamilien sind in Santo Domingo groß geworden und haben sich, so die Meinung einer unserer Gastmütter, im Trubel des Aufbaus zwischen den Baustellen „selbst erzogen“. Auf diese Weise sind die Familien untrennbar mit der Geschichte der colonia verbunden und setzen sich entsprechend engagiert für die Gestaltung des Viertels ein.

Auf Grund der vielen Schwierigkeiten, mit denen sich die Bewohnerinnen und Bewohner in den Anfangsjahren konfrontiert sahen, hat sich in Santo Domingo eine komplexe Form der sozialen Organisation, fern der städtischen oder nationalen Politik, formiert. Eine der einflussreichsten Organisationen ist die Unión de Colonos del Pedregal de Santo Domingo, die „Vereinigung der Siedler des Pedregals de Santo Domingo“. Dank ihrer Koordination konnten zahlreiche öffentliche Versorgungsleistungen, wie etwa Wasserversorgung, Elektrizität und Schulen, etabliert werden. Repräsentativ für die Arbeit der Unión ist die Escuelita Emiliano Zapata, die heute als Gemeindezentrum dient. Das Gebäude wurde zunächst als eine in Eigenregie geführte Schule genutzt und beheimatet heute ein Café, eine Bibliothek, öffentlich zugängliche Computer und Übungsräume für Kurse verschiedenster Art. Nicht zuletzt war die Legalisierung des Viertels ein entscheidender Schritt für die weitere Entwicklung Santo Domingos. Wie die Gründerinnen berichteten, waren alle Errungenschaften mit lang andauernden Auseinandersetzungen mit der Stadtverwaltung verbunden. Etliche Male zogen die Landbesetzerinnen und Landbesetzer zum Zócalo im Zentrum von Mexiko-Stadt, um vor dem Regierungspalast Unterstützung bei der Grundversorgung des Viertels einzufordern.

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Das Gemeindezentrum "Escuelita Emiliano Zapata". Foto: Katharina Heppner

Bezüglich der sozialen Organisationen ist zu erwähnen, dass die Partido Revolutionario Institutional (PRI), die Mexiko mehr als 70 Jahre lang regierte, stets versuchte, zivilgesellschaftliche Bewegungen entweder in die eigenen politischen Programme zu inkorporieren oder sie zu unterdrücken. Im Jahr 2000 wurde die PRI von der PRD (Partido de la Revolución Democrática) durch demokratische Wahlen abgelöst. Viele Bewohner und Bewohnerinnen sehen diesen Wandel als Ergebnis des engagierten Einsatzes der Grassroot-Bewegungen. Die enge Verzahnung von staatlicher Politik mit den lokalen Strukturen in Santo Domingo wird hier ausführlicher dargelegt.

Heute leben etwa 150.000 Menschen in der colonia, die sich südlich des historischen Zentrums von Coyoacán befindet und im Westen an die Universidad Nacional Autónoma de Mexico (UNAM) grenzt (Gutmann 2009:23,25). Das Viertel liegt heute nahezu inmitten in der sich immer weiter ausbreitenden Megacity und ist durch seine Anbindung an das U-Bahnnetz sehr gut erreichbar.

Heute leben nur noch ca. 25 Prozent der Menschen, die einst an der Invasion beteiligt waren, im barrio. Aufgrund seiner zentralen Lage wird Santo Domingo für Studierende und wohlhabendere Familien zunehmend interessant (Gutmann 1997: 28). Grundstücks- und Häuserpreise steigen stetig an. Viele Kinder der einstigen Landbesetzer können sich heute ein Haus oder ein Grundstück in ihrer colonia nicht mehr leisten. Daher bauen die jüngeren Generationen oft weitere Stockwerke auf die Häuser ihrer Eltern. Das Haus unserer Gastfamilie bestand bereits aus fünf Etagen und beherbergte drei Generationen. Weitere Veränderungen machen sich im sozialen Zusammenleben bemerkbar, welches die Bewohnerinnen und Bewohner zunehmend als brüchig erleben. Unsere Gastfamilien berichteten von Konflikten, steigender Kriminalitätsrate und größerer Heterogenität und Anonymität im Viertel. Dennoch ist Santo Domingo ein Stadtteil, dessen Bewohnerinnen und Bewohner besonders stolz auf die Geschichte ihres Viertels sowie auf die Meisterung von Alltagsproblemen trotz staatlicher Repression sind. Wir haben die colonia als städtischen Raum erlebt, der sich durch Spannungen und Widersprüche konstruiert, und sich in besonderem Maße über seine spezifische Geschichte definiert und diese in vielfältiger Form repräsentiert. Die Manifestation von imaginierter Geschichte in Santo Domingo wird hier genauer thematisiert.

 

Literatur:

Gutmann, Matthew C. (2009). The Invasion of Santo Domingo. In: Baltran, Sergio et al. (2009): Rethinking Globalization. International Honors Program.

Gutmann, Matthew C. (1997). The Ethnographic (G)ambit: Women and the Negotiation of Masculinity in Mexico City. American Ethnologist 24 (4): 833-855.


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