Ethnologie
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Oberseminar: "Rechtsstaatlichkeit, kulturelle Differenz und Autonomie - Neuere Tendenzen des Rechtspluralismus in Lateinamerika"

Am 06.07.2009, 18-20h, Raum 0.05 in der Oettingenstrasse 67. Gastreferent ist Prof. Dr. Wolfgang Gabbert (Hannover).

06.07.2009

Im Laufe des 20. Jahrhunderts setzte sich sowohl in Europa als auch in den meisten Ländern Lateinamerikas das allgemeine und gleiche Wahlrecht (zunächst für Männer und später auch für Frauen) durch. In Mittel- und Nordeuropa führte dies, u.a. infolge der Einbeziehung breiter Bevölkerungskreise in das wirtschaftliche Wachstum und die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht, auch tatsächlich zur politischen Integration selbst der Unterschichten. In Lateinamerika blieben demgegenüber große Teile dieser Bevölkerungsgruppe von politischen Entscheidungsprozessen faktisch weitgehend ausgeschlossen. Während sich die sozialen und kulturellen Unterschiede in den Staaten Mittel-und Nordeuropas erheblich verringerten, änderte sich in Lateinamerika nur vergleichsweise wenig an der bestehenden Heterogenität.

So sind die Gesellschaften Lateinamerikas heute nicht nur durch besonders krasse soziale Gegensätze charakterisiert, zudem spielt der Gegensatz zwischen indianischer und nicht-indianischer Bevölkerung in den meisten Ländern des Subkontinents eine erhebliche Rolle, auch wenn die quantitative Bedeutung des indianischen Bevölkerungsteiles, die Formen ihrer Sozialorganisation und der Grad der Einbindung in die jeweilige Nationalgesellschaft sehr unterschiedlich sind.

Die soziale und kulturelle Spaltung der Gesellschaft hat in den meisten Staaten des Subkontinents dazu beigetragen, daß geschriebenes Recht und Rechtspraxis häufig weit auseinanderfallen. Obwohl in den Verfassungen mittlerweile die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz verankert ist und Diskriminierung aufgrund von Rasse, Kultur, Religion oder Geschlecht verboten sind, bleiben bis heute große Teile insbesondere der armen und indianischen Bevölkerung vom Zugang zum Rechtssystem und von der Wahrnehmung ihrer Menschen- und Bürgerrechte faktisch ausgeschlossen. Darüber hinaus haben die Erfahrungen mit Polizei und Justiz u.a. dazu geführt, daß die Mehrheit der Einwohner dem Rechtssystem und seinen Institutionen kein Vertrauen entgegenbringt.

Angesichts der unzureichenden Rechtsstaatlichkeit in vielen Ländern Lateinamerikas und des mangelnden Zugangs zum staatlichen Rechtssystem wundert es nicht, daß sich in zahlreichen Regionen bzw. sozialen Gruppen alternative Formen der Konfliktregelung und gewohnheitsrechtlichen Systeme der sozialen Kontrolle erhalten bzw. neu herausgebildet haben, deren Praktiken mehr oder weniger deutlich vom jeweiligen staatlichen Recht abweichen. Hierzu zähen sowohl Organisationen in urbanen Elendsvierteln als auch Selbstverteidigungsgruppen von Kleinbauern. In der indigenen Bevölkerung spielen darüber hinaus auch die Schlichtungs- und Vermittlungstätigkeiten sogenannter traditioneller Autoritäten eine wichtige Rolle. Diese Koexistenz verschiedener Rechtssysteme innerhalb eines geopolitischen Raums (Rechtspluralismus) ist in den letzten Jahren verstärkt in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit und der Entwicklungspolitik geraten.

Der Vortrag wird zunächst einen Überblick über das Spannungsverhältnis von Rechtsstaatlichkeit und sozialer bzw. kultureller Unterschiedlichkeit in Lateinamerika geben. In einem zweiten Teil wird am Beispiel Mexikos der Frage nachgegangen, inwieweit die Einführung indigener Richter eine Stärkung von Autonomierechten der indigenen Bevölkerung bedeutet.


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